Deutschlands Strukturproblem mit den öffentlichen Bauinvestitionen

Gastbeitrag von Prof. Dr. Mattias Sundermeier, Leiter des Fachgebietes Bauwirtschaft und Baubetrieb an der TU Berlin

Gebaut wird immer! – Auch und immer noch vom Staat

„Deutschland ist fertig gebaut!“ – das war seit der Jahrtausendwende für lange Jahre die Überzeugung in breiten gesellschaftlichen und politischen Kreisen. In Erwartung einer schrumpfenden Bevölkerungszahl hielt man insbesondere das öffentliche Bauen kaum noch für ein zentrales Aufgabenfeld der Daseinsvorsorge; der beginnende Wandel hin zur Digitalisierung und elektronischen Vernetzung in allen Lebensbereichen tat im Verbund mit den Herausforderungen der damit einhergehenden Globalisierung ein Übriges – die Bereitstellung baulicher Infrastruktur wurde mehr und mehr als Randaufgabe aufgefasst.

In der Tat hat der Anteil des öffentlichen Bausektors am Gesamtbauvolumen im Jahr 2018 einen Tiefststand von nur noch 13,8 Prozent erreicht – er ist seit der deutschen Wiedervereinigung damit etwa um ein Drittel geschmolzen; in der „alten“ Bundesrepublik der 1980er Jahre rangierte der öffentliche Bau sogar regelmäßig noch bei rund 25 Prozent Marktanteil. Ein auf den ersten Blick beispielloser Rückgang. Doch der Schein trügt: Berücksichtigt man neben den staatlichen Gebietskörperschaften auch die Baumaßnahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge, die als Infrastrukturmaßnahmen z. B. im Bereich des Verkehrs oder der Wasser- und Energieversorgung von sog. Sektorenunternehmen und als Hochbauten z. B. im Bereich der Gesundheitsversorgung, der Sozialversicherungsträger oder des gemeinnützigen Wohnungsbaus realisiert werden, so erreicht der öffentliche und quasi-öffentliche Anteil am Bauvolumen heute nahezu 30 Prozent.

Die zentrale Bedeutung des Staates für die Bauwirtschaft ist – wenig bemerkt von vielen – deshalb ungebrochen. Politik und Verwaltung prägen das Planen und Bauen nicht allein mit ihrer Marktmacht als wichtigste Nachfragergruppe, sondern ganz wesentlich auch als Marktgestalter durch das Haushalts- und Vergaberecht. Die öffentliche Hand steht aus diesem Grunde für eine gedeihliche Entwicklung der Baubranche – nicht zuletzt aus fiskalischem Eigeninteresse – in besonderer Verantwortung.

Besonderes Gewicht erhält dieser Befund angesichts der zentralen Herausforderungen unserer Zeit: Schutz gegen veränderte Naturgewalten, klimaschonende Mobilität, ressourcenschonende Energie- und Wasserversorgung, Energieeinsparungen im Gebäudebestand – all dies kann ohne innovatives Planen und Bauen so wenig gelingen wie die Sicherstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse – etwa durch bezahlbares Wohnen, gute Kitas und Schulen oder ein bundesweit leistungsfähiges und flächendeckendes Verkehrs- bzw. Datennetz. Deutschland also „fertig gebaut“? Bauen als Randaufgabe? – Mitnichten! Unversehens stehen Bauaufgaben wieder im Zentrum der Daseinsvorsorge und im Fokus der Zukunftssicherung!

Mittel liegen bereit! – Doch sie wollen nicht fließen ...

Die Politik trägt dieser Erkenntnis auf altbewährte Weise „Rechnung“ – sie stellt Finanzmittel in einem Umfang bereit, wie er noch vor kurzem völlig undenkbar erschienen wäre. Gleich, wohin man blickt – die Geldtöpfe quellen schier über vom bereits realisierten oder für die kommenden Jahre beschlossenen Bundesmittelaufwuchs für öffentliche Hochbau- und Infrastrukturinvestitionen. Immer deutlicher wird jedoch klar: Der Abruf der Gelder erfolgt schleppend, es gelingt nur zäh, den Mittelfluss in konkrete Projektumsetzungen münden zu lassen.

Aus dem 2015 eingerichteten Fördertopf für kommunale Infrastrukturinvestitionen waren per Ende Juni 2020 zwar 98 Prozent der Mittel von insgesamt 3,5 Mrd. Euro gebunden, allerdings erst 63 Prozent abgerufen; die Laufzeit des Programms wurde deshalb um ein Jahr bis Ende 2021 verlängert. Im Bereich des ebenfalls mit 3,5 Mrd. Euro ausgestatteten und 2017 aufgelegten Schulsanierungsprogramms waren zum 30. Juni 2020 sogar lediglich 10 Prozent der Mittel abgerufen und erst 83 Prozent in konkreten Bauvorhaben gebunden. Im Bereich der Infrastruktur zeigt sich die Situation als kaum besser – so wurde Mitte 2018 mit großem Medienecho publik, dass nach rund drei Jahren Laufzeit erst 0,8 Prozent der Fördermittel für den Ausbau des Breitbandnetzes abgerufen waren.

Auch im Angesicht der aktuell grassierenden COVID-19-Pandemie und den damit einhergehenden gesamtwirtschaftlichen Verwerfungen hält der Staat bislang noch ungebrochen an seinen Investitionsabsichten fest. Im öffentlichen Bau entspricht die aktuelle Lage deshalb noch weitgehend der des ausgehenden Jahrs 2019. Seinerzeit beliefen sich die brachliegenden Investitions- bzw. Fördermittel des Bundes nach Angaben des Finanzministeriums in der Summe auf knapp 20 Mrd. Euro – das Volumen habe von Jahr zu Jahr zugenommen. Fast flehentlich appellierte der Bundesfinanzminister deshalb schon im Herbst 2019 in der Presse an Länder, Kommunen und andere Bedarfsträger: „Bitte nehmt das Geld!“

Stets bemüht! – Die öffentliche Hand verfehlt ihre Investitionsziele

Die Angesprochenen allerdings hatten und haben offenkundig bereits genug Schwierigkeiten damit, ihre planmäßigen bzw. längerfristig angeschobenen Investitionsvorhaben zu realisieren. In Berlin etwa konnten in den ersten drei Jahren der seit 2017 laufenden Schulbauoffensive zwar 1,32 Mrd. Euro investiert werden – dennoch blieb man damit rund 20 Prozent hinter der selbstgesetzten Planung für die 10-jährige Laufzeit des 5,5 Mrd. Euro schweren Programms zurück. Im bundesweiten Durchschnitt des Jahres 2019 verfehlten Städte, Gemeinden und Kreise laut Erhebungen des KfW-Kommunalpanels ihre Investitionsziele noch deutlicher: 80 Prozent der teilnehmenden Kommunen gaben weniger Mittel aus als in den Etats vorgesehen – von geplanten 35,9 Mrd. Euro konnten lediglich 24,4 Mrd. Euro umgesetzt werden, im Jahr 2018 lag die Quote mit einem tatsächlich realisierten Investitionsvolumen von 22,6 Mrd. Euro gegenüber der Planvorgabe von 34,7 Mrd. Euro ähnlich niedrig.

Dieses Phänomen alleine mit den zuletzt deutlich angewachsenen Förder- und Haushaltsbudgets zu erklären, griffe deutlich zu kurz. Schon in der früheren Vergangenheit waren die Kommunen flächendeckend nicht in der Lage, die zum Substanzerhalt öffentlicher Gebäude und Infrastruktur notwendigen Mittel in annähernd ausreichendem Umfang zu verbauen. Der kommunal wahrgenommene Investitionsstau hat sich deshalb über zehn Jahre bis 2019 auf 147 Mrd. Euro nominal fast verdoppelt – und er dürfte im laufenden Jahr weiter anwachsen. Das Problem der nicht abfließenden Mittel ist deshalb weniger konjunktureller Natur, sondern legt vielmehr die bereits seit langem bestehende strukturelle Investitionsschwäche der öffentlichen Hand offen.

Deutlich wird dies in nahezu allen Bereichen: Obschon Städte, Kreise und Gemeinden seit geraumer Zeit größte bauliche Anstrengungen unternehmen, ist der Investitionsstau bei der Kinderbetreuung und dem Schulbau seit 2010 von 23,9 auf nunmehr 53,9 Mrd. Euro und damit weit stärker angewachsen als in jedem anderen Aufgabenfeld. Ebenfalls kritisch zeigt sich die Situation im Bereich der Verkehrsinfrastruktur, wo der von den Kommunen wahrgenommene Investitionsstau seit 2010 von 23,5 auf inzwischen 37,1 Mrd. Euro zugenommen hat.

Auch die Länder kämpfen mit der Erfüllung ihrer Bauaufgaben im Fernstraßenbereich und haben diese deshalb mehr und mehr in die Auftragsverwaltung der DEGES „ausgelagert“ – zwischen 2014 und 2018 kletterte das offene Auftragsvolumen aus dem Bereich der Länder Berlin, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt bei der DEGES um 89 Prozent auf inzwischen 3,99 Mrd. Euro. Mit ähnlichem Trend entwickelte sich die Situation aus den anderen Bundesländern. Der anstehende „Auftragsberg“ hat mit Stand 2018 deshalb eine Rekordhöhe von 16,1 Mrd. Euro erreicht. Auf Basis des aktuell realisierten Geschäftsvolumens bräuchte die DEGES für die Abarbeitung eine Zeit von 19,6 Jahren – noch im Jahr 2009 lag diese Auftragsreichweite bei lediglich sechs Jahren.

Die Aufzählung derartiger Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen; die Schlussfolgerung ist klar: Der Staat droht seine baulichen Investitionsziele auf allen Ebenen, in allen Sparten und auf breiter Front langfristig zu verfehlen – mit allen daraus resultierenden Konsequenzen für das Gemeinwesen. Mit dem öffentlichen Druck wachsen naturgemäß auch die Spannungen zwischen den Marktbeteiligten: Bauwirtschaft und Staat machen als Ursache der stockenden Investitionen fehlende Kapazitäten aus – und zwar auf der jeweils „anderen“ Seite.

Bauen für den Staat? – Nein danke!

In der Tat dünnen die Bewerberfelder bei Bauausschreibungen seit geraumer Zeit immer mehr aus. Nach einer Erhebung der EU-Kommission ging die durchschnittliche Zahl der Angebote für EU-weit ausgeschriebene öffentliche Aufträge zwischen 2006 und 2016 von fünf auf drei zurück. Die Zahl der EU-weiten Vergabeverfahren, bei denen lediglich ein Angebot eingereicht wurde, stieg im gleichen Zeitraum von 17 auf 30 Prozent. Ähnlich liegen die Dinge bei nationalen Vergaben für Aufträge kleineren Umfangs. Wieder und wieder müssten Ausschreibungen aufgehoben werden, weil die Bauwirtschaft keine Angebote  abgebe, klagte jüngst ein ostdeutscher Landesfinanzminister. Und tatsächlich: Im Jahr 2018 bewarb sich fast jedes dritte (31 Prozent) der Brandenburger Bauunternehmen nicht mehr für öffentliche Aufträge, bei den in Berlin ansässigen Firmen lag diese Quote mit 43 Prozent sogar noch weit darüber.

Gleichsam reflexartig kommt deshalb aus der Politik die Forderung nach einer Kapazitätsausweitung der Bauwirtschaft. Angesichts zunehmender Fachkräfteengpässe und immer größerer Probleme bei der Besetzung offener Stellen erscheint dieser Weg – zumindest im Hinblick auf den Ausbau der Personalkapazitäten – allerdings kaum erfolgversprechend. Die Forderung verkennt zudem die Tatsache, dass die Bauwirtschaft in der ausgehenden Dekade bereits eine beachtliche Produktionssteigerung vollzogen hat – seit 2009 konnte das realisierte Jahresbauvolumen um nominal 58 Prozent auf inzwischen 431 Mrd. Euro ausgeweitet werden. In den Bausparten und Gewerbezweigen, in denen aktuell ein Großteil der Betriebe tatsächlich am Kapazitätslimit operiert, wäre ein weiterer Ausbau oft nur unter erheblichen Anschaffungsinvestitionen in den Betriebsapparat – z. B. in Maschinen und Geräte – und damit unter einer ggf. substanziellen Ausweitung des langfristig auf den Firmen lastenden Fixkostenblocks.

Nicht wenige Unternehmen scheuen vor einer solch weitreichenden Entscheidung jedoch trotz aller Baunachfrageversprechen des Staats zurück – zu präsent sind noch die Erfahrungen aus der Strukturkrise von 1995 bis 2005, die durch den rapiden und für viele Unternehmen unvorhergesehenen Einbruch der öffentlichen Bauinvestitionen wenn nicht ausgelöst, mindestens aber doch beträchtlich verschärft wurde. Die Bauwirtschaft hat in den Krisenjahren eine Anpassungsleistung sondergleichen vollbracht. Unternehmen, die aus dieser „Rosskur“ schlank und flexibel hervorgegangen sind, mögen heute – auch angesichts der aktuell pandemiebedingt unklaren Zukunftsperspektiven – nur ungern „Speck“ ansetzen. In der prosperierenden Baunachfrage der vergangenen Jahre und angesichts der damit verbundenen hohen betrieblichen Auslastung haben die Anbieterunternehmen vielmehr eine selektive Projekt- und Kundenauswahl kultiviert. Die öffentliche Hand als Bauherr hat hierbei gegenüber privaten und privatwirtschaftlichen Nachfragern augenscheinlich immer häufiger das Nachsehen.

In der Marktwirtschaft lässt sich das Bauen für den Staat allerdings ebenso wenig „verordnen“ wie der Ausbau von Produktionskapazitäten. Die Politik wird deshalb erkennen müssen, dass es für die erfolgreiche Umsetzung öffentlicher Bauprogramme heute und in Zukunft mehr braucht als gut gefüllte Investitionstöpfe – die traditionelle Bauwirtschaftssteuerung nach dem „Wasserhahnprinzip“ ist angesichts der fundamental gewandelten Branchenverhältnisse zum Scheitern verurteilt. Es gilt deshalb, die Rahmenbedingungen für das öffentliche Bauen kritisch zu hinterfragen, und zwar nicht allein mit Blick auf die Nachfragegestaltung, sondern insbesondere auch hinsichtlich ihrer Umsetzung im Verwaltungshandeln und Vergabeverhalten öffentlicher Auftraggeber.

Im Formulardschungel! – Bürokratiebelastung der Unternehmen

Immer häufiger beklagen Firmen beim Bauen für die öffentliche Hand einen überbordenden Verwaltungsaufwand, u. a. für die Beibringung geforderter Erklärungen und Zertifikate. In Berlin war dieser Umstand für 8 von 10 Unternehmer, in Brandenburg sogar für sämtliche befragten Baufirmen ein ausschlaggebender Faktor dafür, den Staat als Kunden ggf. nicht mehr zu bedienen. Laut einer Erhebung der Bauindustrie Ost haben im Jahr 2018 rund 55 Prozent der Verbandsunternehmen allein wegen zu hoher bürokratischer Hürden bereits mindestens einmal auf eine Teilnahme an Ausschreibungen der öffentlichen Hand verzichtet.

Tatsächlich wuchert der Bürokratie- und Formulardschungel in der öffentlichen Verwaltung trotz gegenteiliger Absichtserklärungen der Politik immer weiter. Allein seit dem Jahr 2017 ist die Zahl rechtlicher Vorgaben mit dem Normadressat Wirtschaft als unmittelbar kosten- und/oder zeitaufwandswirksame Regularien von 15.795 auf inzwischen 16.831 angewachsen, und auch ihr Regelungsumfang und die aus den Regelungen erwachsenden Anforderungen an den Adressatenkreis nehmen beständig zu.

Nicht zuletzt zeigt sich dies in den Vergabegesetzen der Länder, die zuletzt immer stärker als Instrument für die Durchsetzung grundlegender gesellschaftspolitischer Zielsetzungen in den Bereichen Umwelt, Soziales und Gleichstellung ausgestaltet wurden. Mit weitreichenden Regelungen vergabefremder Aspekte überfrachten sie nicht allein das öffentliche Bauauftragswesen; sie greifen überdies – etwa mit Anforderungen an den vorzuhaltenden Maschinenpark – auch massiv in die Unternehmensführung ein, gehen teilweise an den Gegebenheiten der Bauwirtschaft vorbei und sorgen für immer höheren Erfüllungsaufwand. „Vorreiter“ ist hier einmal mehr das Land Berlin mit dem seit 1. Mai 2020 in Kraft getretenen Ausschreibungs- und Vergabegesetz (BerlAVG). Positive Marktanreize zur Beteiligung an öffentlichen Bauvorhaben wird man auf derartige Weise kaum schaffen können.

Papiertiger? – Hausgemachte Kapazitätsprobleme der öffentlichen Verwaltung

Der konkrete gesellschaftspolitische Nutzen der Landesvergabegesetze bleibt darüber hinaus mehr als fraglich: Wenn etwa das Land Berlin schon im Gesetzestext die Einhaltungskontrolle mit einer weich gefassten Soll-Vorschrift auf – notabene: nachträgliche – Stichpunktprüfungen mit der Zielgröße von 5 Prozent der vergebenen Aufträge beschränkt, dann muss man dies wohl als Kapitulation vor dem selbst provozierten Aktenberg verstehen. Ob die damit ausgerufene Kontrolle nach dem Zufallsprinzip dem vergaberechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz genügt, lässt sich mindestens diskutieren – die Regelung ist deshalb dazu angetan, das Marktvertrauen in ein faires Vergabeverfahren und die Zuschlagserteilung auf das tatsächlich wirtschaftlichste Angebot eher zu schwächen denn zu festigen. Mehr noch: Dort, wo die Prüfung einer rechtstreuen, ordnungsgemäßen Angebotslegung mit all ihren wettbewerblichen Konsequenzen nicht mehr im Verfahren und von der Vergabestelle, sondern erst im Nachhinein von einer „zentralen Kontrollgruppe“ vorgenommen wird, wird der Vergaberechtsschutz der (An-)Bieter schleichend ausgehöhlt.

Es besteht die Gefahr, dass die Vergabestellen ihre Prüfintensität potenziell unangemessen niedriger oder spekulativer Angebotspreise gegenüber dem bisher schon unzureichenden Niveau mit Blick auf eine später ja ohnehin mögliche Kontrolle noch einmal weiter absenken werden. Ein solcher Effekt droht insbesondere, wenn und wo Vergabeverfahren unter immer größerer Personalknappheit vorbereitet und durchgeführt werden müssen. Bereits heute ist die Not in dieser Hinsicht wohl in den allermeisten Bauverwaltungen groß:

In Städten, Gemeinden und Landkreisen etwa fiel zwischen 1991 und 2010 jede dritte Stelle dem Rotstift zum Opfer; die Zahl der kommunalen Beschäftigten sank von 2,05 auf 1,36 Mio. Spätere Bemühungen zur Stärkung der personellen Kapazitäten konzentrierten sich – wie auch bei den Ländern – primär auf den Erziehungs- und Sozialbereich; die Bauverwaltungen konnten daran hingegen kaum partizipieren. Es fehlt hier deshalb an allen Ecken und Enden an Fachpersonal. Personalstellen werden zwar flächendeckend neu geschaffen, doch es gelingt den Behörden, Kommunal- und Landesbetrieben trotz intensivierter Anwerbebestrebungen zumeist bestenfalls, altersbedingt ausscheidende Beschäftigte zu ersetzen. Diese Herausforderung dürfte in den kommenden Jahren noch erheblich wachsen: Nach aktuellen Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung liegt der Altersanteil der in der zentralen Verwaltung Beschäftigten bei 31 Prozent; im Bereich des Verkehrs- und Nachrichtenwesens gar bei 39 Prozent. Binnen zehn Jahren muss also rund jede dritte Stelle in den öffentlichen Bauverwaltungen neu besetzt werden, um nur die heutige Personalkapazität zu halten.

Eine Herkulesaufgabe, wenn man die aktuelle Lage auf dem Ingenieurarbeitsmarkt zum Maßstab nimmt: Im 2. Quartal 2020 waren laut VDI-Ingenieurmonitor in der Kategorie „Bau, Vermessung, Gebäudetechnik und Architektur“ deutschlandweit 31.630 freie Stellen gemeldet – demgegenüber fanden sich in dieser Gruppe lediglich 7.464 Arbeitssuchende. Anders als in anderen Wirtschaftszweigen hat die aktuell grassierende COVID-19-Pandemie hier gegenüber 2019 kaum für Entspannung auf dem Arbeitsmarkt gesorgt, und die Ausbildungskapazitäten der Hochschulen und Universitäten reichen schon lange nicht mehr aus, um den aktuellen und zukünftigen Nachwuchsbedarf auch nur annähernd zu befriedigen. Angesichts mäßiger Besoldung und eines besonders unter jungen Menschen als wenig attraktiv wahrgenommenen Arbeitsumfelds ist die Gefahr groß, dass die öffentlichen Verwaltungen den „Kampf um die besten Köpfe“ auf verlorenem Posten führen und weiter an personeller Leistungsfähigkeit einbüßen werden.

Dienst „nach Vorschrift“! – Beschaffungsverwaltung statt -gestaltung

Schon heute ächzen die Bauverwaltungen unter den immer weiter steigenden Bürokratiebelastungen, die ihnen von der Politik in überschießendem Regelungsdrang aufgebürdet werden. Hoffnungen auf eine Vereinfachung bzw. Effizienzsteigerung durch Digitalisierung behördlicher Verwaltungsprozesse wurden bisher weitgehend enttäuscht. Noch im Jahr 2016 stützten sich in der EU lediglich vier Mitgliedsstaaten für alle wichtigen Schritte der öffentlichen Auftragsvergabe und -administration auf digitale Technologien, Deutschland zählte nicht dazu und tut es bis heute nicht. Im Gegenteil: Im Segment elektronischer Behördendienste erreicht Deutschland 2019 lediglich einen abgeschlagenen 21. Rang im „Digital Economy and Society Index“ (DESI) der 28 EU-Staaten und ist damit gegenüber 2016 sogar um drei Plätze zurückgefallen.

Die Folgen für das Verwaltungshandeln sind gravierend: Im Gespräch äußerte jüngst der Tiefbauamtsleiter einer Mittelstadt, dass seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inzwischen rund 40 Prozent ihrer Arbeitszeit für rein administrative Tätigkeiten wie z. B. die Dokumentation in Vergabeverfahren oder die Erstellung von Ratsvorlagen und Statistiken aufwenden. Der Fremdleistungsanteil für Planungs-, Projektmanagement und Bauüberwachungsleistungen hat deshalb immer weiter zugenommen, rangiert bei der öffentlichen Hand inzwischen auf einem Rekordniveau – und bringt weiteren Bürokratieaufwand mit sich. Für originär ingenieurtechnische, wertschöpfende Aufgaben bei der Bauprojektvorbereitung und Vorhabenumsetzung bleibt den Bauverwaltungsbeschäftigten immer weniger Zeit.

Dies beginnt im Regelfall bereits bei der Projektstrukturierung und der Beschaffungsgestaltung. Während das Beschaffungsmodell und das Vergabeverfahren in anderen Ländern regelmäßig nach ingenieurtechnischen und wirtschaftlichen Erfordernissen der Planungs- und Bauaufgabe individuell festgelegt werden, verhält es sich hierzulande zumeist umgekehrt: Der Beschaffungsgegenstand der Planungs- und Bauleistung wird so zurechtgeschnitten, bis er sich in das Korsett der als „Verwaltungsstandard“ unhinterfragt praktizierten Fachlosvergabe einfügt, weil es das Vergaberecht so vorsehe – so jedenfalls die landläufige Überzeugung.

Diese Herleitung des Beschaffungsgegenstands aus einzelnen Vergabevorschriften läuft nicht allein dem Regelungszweck des Vergaberechts grob zuwider, sie ist auch unter dem haushaltsrechtlichen Leitmotiv der sparsamen und wirtschaftlichen Mittelverwendung fragwürdig. Ein allgemeingültiger Erfahrungssatz einer wirtschaftlichen Überlegenheit der Fachlosvergabe existiert jedenfalls nicht. Wiederholt haben die Rechnungshöfe der Länder und die kommunalen Rechnungsprüfungsämter deshalb in der Vergangenheit eine ordnungsgemäße Wirtschaftlichkeitsuntersuchung – auch und nicht zuletzt hinsichtlich möglicher Beschaffungsalternativen – und die Durchführung projektbegleitender Erfolgskontrollen angemahnt. Bislang mit überschaubarem Erfolg – die Bauverwaltungen bleiben hier auf breiter Front hinter den haushaltsrechtlich gesetzten Maßstäben zurück. Die Arten- wie Individualvielfalt öffentlicher Projekte wird in der faktischen „Monokultur“ der Vergabelandschaft deshalb bis zur Unkenntlichkeit eingeebnet.

Wer sollte sich da noch wundern, dass das Beschaffungsverhalten des Staates hierzulande verbreitet als bieder und kaum innovativ wahrgenommen wird. Zu diesem Befund kommt auch eine Studie der Europäischen Kommission vom März 2019 zum strategischen Einsatz der öffentlichen Beschaffung für die Förderung von Innovationen in einer digitalen Wirtschaft: Deutschland erreicht hier als „moderate performer“ lediglich den elften Rang unter den 28 EU-Ländern nebst Norwegen und der Schweiz, mit einem Punktewert von 34,1 Prozent weit abgeschlagen hinter den mit 67,6 Prozent erstplatzierten Finnen.

Eingedenk notorischer Kapazitätsnot unter hoher Bürokratiebelastung der öffentlichen Bauverwaltungen und eines zunehmenden politischen Ausgabedrucks der verfügbaren Mittel erscheint dies fast als folgerichtig.

Ein Scheinriese! – ökonomische Effizienz der Vergabe- und Angebotspraxis

Im Fokus des Verwaltungshandelns steht deshalb nicht eine proaktive Beschaffungsgestaltung, sondern eine reaktive Beschaffungsverwaltung im Sinne der Verfahrensorganisation und Vergabeadministration. Die Prämisse liegt dabei regelmäßig weniger auf einem bestmöglich effizienten Bauleistungseinkauf als vielmehr auf einer möglichst störungsfreien Vergabedurchführung.

Das Gebot der Zuschlagserteilung auf das wirtschaftlichste Angebot wird deshalb verbreitet im Sinne einer Niedrigstpreisvergabe interpretiert – Studien zufolge erhält in ca. 95 Prozent aller Vergabeverfahren der öffentlichen Hand der Bieter mit der niedrigsten Angebotssumme den Auftrag. Ungewöhnlich niedrige Angebotspreise werden von den Vergabestellen meist halbherzig aufgeklärt, dazu abgeforderte Bietererklärungen werden bereitwillig und oft ohne nähere Prüfung zu den Akten genommen. Man kann es den Beteiligten kaum verdenken, denn die vergabe- und dienstrechtlichen Vorgaben bieten letztlich kein taugliches Korrektiv – die dort angezeigte „Ausgreifschwelle“ von 10 Prozent des Gesamtangebotspreises gegenüber dem zweitgünstigsten Angebot zur Auslösung eines Prüffalls wird nach Studien des Bundesrechnungshofs nur bei jedem zwölften Vergabeverfahren überhaupt erreicht. Angesichts vielfältigster Leistungszuschnitte und Kalkulationsmöglichkeiten folgt auf einen Bieterausschluss aufgrund einer Preisprüfung in der Praxis zudem fast stets ein Nachprüfungsverfahren, das jedes Bauvorhaben torpedieren kann.

Der sauber kalkulierende Bieter bleibt unter diesen Vorzeichen oftmals zweiter Sieger – oder er sieht sich selbst in Hochkonjunkturphasen um des Auftragserfolgs willen zu marktunüblich niedrigen Angebotspreisen gezwungen. Wie massiv dieses Phänomen den Markt beeinflusst, lässt sich nur erahnen. Die Tatsache, dass die in Berlin und Brandenburg befragten Unternehmen neben hoher Bürokratiebelastung vor allem schlechte Preise als Grund für Ihren Rückzug aus dem öffentlichen Bauen nennen, spricht eine deutliche Sprache.

Manch ein Unternehmer hat sich mit den Gegebenheiten des Preiswettbewerbs arrangiert und die „Kunst“ der Angebots- bzw. Preisspekulation perfektioniert, um sein Vergütungsniveau bei absehbar erforderlichen Leistungsmodifikationen nach Vertragsschluss im Wege der Kalkulations- bzw. Preisfortschreibung substanziell „aufzubessern“. Zur Rechtfertigung hört man in diesen Fällen häufig, es sei schließlich Sache des öffentlichen Bauherrn, die geforderte Leistung in ihrer Gesamtheit nach Art und Umfang „richtig“ zu beschreiben. Dieses Argument ist so verbreitet und ebenso zutreffend wie die Klage über schlechte Ausschreibungs- bzw. Ausführungsunterlagen. Ökonomisch aber kann diese Konstellation bei näherer Betrachtung keine der Marktparteien zufrieden stellen: Der Bauherr trifft seine Vergabeentscheidung de facto unter falschen Voraussetzungen, behindert mit unzureichend vorbereiteten Verdingungsunterlagen einen produktiven Faktoreinsatz des bauausführenden Unternehmers und sieht sich am Ende von der Baukostenentwicklung böse überrascht. Der Bauunternehmer hingegen profitiert vielleicht im Einzelfall von seiner Angebotstaktik; als Preis dafür aber erodiert die für ein gedeihliches Zusammenwirken unabdingbare Vertrauensbasis der Baumarktpartner.

Die Folge ist zunächst eine über alle Maßen ausgeprägte Konfliktbelastung des Planens und Bauens – statistisch gesehen kam es im Jahr 2018 trotz Hochkonjunktur etwa pro 8 Mio. Euro realisiertem Bauvolumen zu einem Gerichtsstreit in Bau- und Architektensachen. Abnorm hoch sind nach aller Erfahrung auch die damit einhergehenden Kosten für Gerichte, Anwälte, Sachverständige und letztlich auch die Kosten aus unproduktiver Bindung dringend anderweitig benötigter Eigenkapazitäten der Parteien. Vom Prozessergebnis schließlich zeigen sich die Parteien allzu oft enttäuscht. Die Nutzen-Kosten-Abwägung fällt deshalb nicht allein unter einzelwirtschaftlichen Erwägungen ernüchternd aus, sie kann auch unter gesamtwirtschaftlichen Effizienzmaßstäben nicht zufrieden stellen.

Auswege aus dem Dilemma? – Das Nebenangebotsparadoxon!

Als möglichen Ausweg aus dem Dilemma des öffentlichen Bauens könnte man in Betracht ziehen, den in der Vergabepraxis vorherrschenden Preiswettbewerb auf breiterer Front und mit höherem Gewicht um die Komponente der ingenieurtechnischen Ideenfindung zu erweitern. Im Vergaberecht ist dieser Ansatz bereits seit jeher verankert, insbesondere über die Ermöglichung sog. „Nebenangebote“ zum Amtsentwurf der öffentlichen Hand. Seine Anwendung in der Praxis aber lässt den interessierten Betrachter staunend zurück: Je höher die Erfolgsquote von Nebenangeboten, desto seltener werden sie in den Vergabeverfahren zugelassen!

Dies ergibt sich aus einer vor reichlich zehn Jahren durchgeführten Erhebung der Technischen Universität Braunschweig im Auftrag des Bundes. Während Nebenangebote im Hochbau wie auch im Straßen- und Tiefbau meist zugelassen, aber nur in geringer Zahl bezuschlagt wurden, waren Nebenangebote im Wasserbau lediglich bei gut einem Viertel (28 Prozent) aller Vergaben willkommen, ihre Erfolgsquote hingegen erreichte mit 51 Prozent einen Höchstwert. Ähnlich liegen die Dinge im Ingenieur- und Brückenbau einer Zulassungs- und Bezuschlagungsquote von 57 bzw. 42 Prozent. Eine geradezu paradoxe Situation!

Als Gründe für die Nichtzulassung von Nebenangeboten nennen die Vergabestellen häufig den höheren Administrations- und Bearbeitungsaufwand im Vergabeverfahren, auch befürchtet man eine Zunahme von Vergabebeschwerden. Der Befund mag Bauleute frustrieren: Verwaltungs- und Rechtsfragen haben im Verwaltungshandeln offenbar längst die Oberhand über das Bestreben nach werthaltigen, optimierten Planungs- und Baulösungen gewonnen. Bereits auf die Auftragssumme eines Bauvorhabens bezogen bleibt damit regelmäßig – so zeigen es aktuelle Studien – ein Kosteneinsparpotenzial im zweistelligen Prozentbereich ungenutzt. Hinzu kommt der wirtschaftliche Bauherrenvorteil aus dem mit dem Zuschlag auf ein Nebenangebot im Allgemeinen verbundenen Übergang des Planungs- und Mengenrisikos auf den Unternehmer. Fände man weiterhin Mittel und Wege, um aufwändige Mehrfachplanungen für den Amtsentwurf und Nebenangebotsvarianten zu vermeiden, würde das für die knappen Bauherren- und Planungskapazitäten eine ggf. beträchtliche Entlastung bedeuten. Was also ist zu tun?

Zurück in die Zukunft! – Ansätze einer Neuausrichtung des öffentlichen Bauens

„Not macht erfinderisch“, sagt der Volksmund. Und in der Tat kommt angesichts der strukturellen Schwierigkeiten des Staates bei der Verwirklichung seiner Bauinvestitionsbestrebungen allmählich Bewegung in die öffentliche Beschaffungspraxis. Insbesondere das Dogma der Fachlosvergabe beginnt zu bröckeln. Noch aber fehlt es vielerorts an Orientierung über sinnvolle Alternativen – klassische Generalunternehmerlösungen stoßen weiter auf Skepsis und sind auch in ihrer ursprünglichen Domäne des privatwirtschaftlichen Bauens im Wandel begriffen. Es braucht deshalb eine fundamentale Neuausrichtung – nach dem Geld müssen nun die Ideen fließen!

Das betrifft zunächst einmal das Rollenverständnis der öffentlichen Hand und ihre daraus resultierende strategische Bauherrenorganisation: Dort, wo der Staat als Kunde – z. B. im allgemeinen Verwaltungsbau – einer unter vielen Bedarfsträgern ähnlicher Bauwerke ist, kann es genügen, wenn er seinen Bedarf primär aus der Nutzerposition definiert und sich dafür marktetablierte (Komplett-)Lösungen anbieten lässt und unter ihnen die bestgeeignetste auswählt.

Mit wachsendem Individualitätsgrad bzw. mit wachsender Kundenspezifität von Bauwerken wird ein öffentlicher Bauherr umso mehr gefordert sein, eigene Expertise vorzuhalten und Bauvorhaben aktiv mitzugestalten – nicht allein in der bautechnischen Umsetzung, sondern insbesondere mit einer klugen Projektstrukturierung und einer auf die individuellen Projektbedürfnissen abgestellten Beschaffungslösung. Hier bietet sich vielfältiger Handlungsspielraum. Dass dieser sich unter EU-Vergaberecht kreativ nutzen lässt, beweisen z. B. die von der EU-Kommission als besonders innovativ gelobten Finnen.

Komplexe Infrastruktur-Großvorhaben werden dort bereits seit zehn Jahren unter frühzeitiger Einbindung aller Wertschöpfungspartner als sog. „Allianzen“ in einer integrierten Projektorganisation realisiert. Als Motor für die Digitalisierung der Bauwirtschaft, in wachsender Zahl und mit so großem Erfolg, dass ihr Beispiel auf dem skandinavischen Markt mehr und mehr Schule macht!

Nicht allein der Blick über den Tellerrand – auch ein Blick zurück kann Wege in die Zukunft weisen: Die bau- und bauverfahrenstechnischen Neuerungen der bis heute wohl dynamischsten Innovationsphase der Bauwirtschaft zwischen dem Ende der 1950er bis in die frühen 1970er Jahre beruhten zu einem hohen Anteil auf dem Planungs- und Ideenfreiraum, den der Staat in seinen Vergabeverfahren eröffnet hatte. Beispielhaft zu nennen ist hier etwa die gängige Praxis, im Brückenbau lediglich sog. „Rahmenentwürfe“ vorzugeben, die von Planungsbüros und Baufirmen in Bietergemeinschaft zu optimierten Lösungen geführt werden konnten. Es gibt keinen triftigen Grund, weshalb sich an derartige Überlegungen heute nicht wieder anknüpfen lassen sollte – die damit verbundenen Herausforderungen wie z. B. eine stärker „funktionale“ Ausrichtung von Planfeststellungsverfahren – dürften mit etwas gutem Willen allesamt zu bewältigen sein.

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